Habe gerade das Buch von Martin Rasper “Vom Gärtnern in der Stadt” ausgelesen. Ein Buch, das Lust auf Gartenprojekte macht und inspiriert. Einen Teil der Kasernenwiese in einen Bundesrat-Minger-Garten umwandeln? Wäre doch cool!
Bei der Lektüre habe ich mir natürlich immer mal wieder die Frage gestellt “Und was gibt es in der Schweiz? Verschlafen wir wieder mal einen Megatrend?” Aber auch ohne grosse Webrecherchen fallen mir spontan ein paar Antworten ein: Wenn ich von meinem Balkon mitten in der Stadt in die saftiggrünen Gärten der umliegenden Häuser schaue, ist mir klar, dass Bern im globalen Massstab eine grüne Hölle ist, es spriesst und wuchert überall. Das wurde mir bei meinen Experimenten mit Seed Balls schmerzlich bewusst. Wenn überall Gras und Wildblumen schon meterhoch stehen, kann man sich die Seed Balls sparen. Die freien Flächen und Brachen, auf denen Seed Balls wachsen und gedeihen können, muss man in Bern erst mal aufspüren!
Ich denke, hierzulande ist der Leidensdruck für die Entstehung einer Urban Gardening Bewegung einfach nicht gross genug. Die meisten Schweizer Städte sind klein bis sehr klein und mit viel Grün durchsetzt. Ausserdem liegt das nächste Erholungsgebiet in freier Natur meist in Fahrraddistanz. Zusätzlich gibt es Schreber- und Quartiergärten, botanische Gärten und Parks. Einfamilienhäuser haben meist ihre eigenen Gärten. Und noch sind die Gemeinden nicht so verarmt, dass sie sich die Stadtgärtnereien nicht mehr leisten könnten.
Die Landwirtschaft in der Schweiz ist kleinräumiger und weniger durchindustrialisiert als im europäischen Umland. Die Kleinräumigkeit dürfte generell zu einer engeren Vernetzung zwischen Stadt und Land führen als in Deutschland (auch wenn sich das politisch manchmal überhaupt nicht so anfühlt): Bauern und Bergler vermarkten ihre Produkte zum Teil direkt in der Stadt, Städter decken sich beim Sonntagsausflug in Hofläden ein. Und beim bäuerlichen Sonntagsbrunch wird der Stadt-Land-Graben mit Züpfe und Härdöpfeler eingeebnet.
Links
Ein paar Projekte habe ich doch gefunden. Als erstes fand ich beim Googlen die interkulturellen Gartenprojekte. Eigentlich logisch, dass in der Schweiz mit ihrem hohen Ausländeranteil dieser Aspekt wichtiger ist als der Widerstand gegen Stadtgrau und Agrolobby. Gemeinschaftsgärten sind Integrationsprojekte erster Güte. Wer in einem fremden Land einen Garten bepflanzt, der schlägt Wurzeln.
Interessant auch, was Google als nächstes zum Vorschein bringt: Nicht etwa die Websites und Blogs von lokalen Initiaven und Projekten, sondern Zeitungsartikel darüber. Urban Gardening als Medienhype? Wie es dem auch sei, hier ein Artikel der NZZ über Zürich und ein Bund-Artikel über die mobilen Gärten am Burgernziel in Bern. Aus diesem Artikel habe ich auch erfahren, dass es in meiner nächsten Nähe, nämlich am Centralweg in der Lorraine, ein mobiles Gartenprojekt gibt. Und die Zürcher wollen nächstes Jahr Nutzpflanzen auf Verkehrsinseln anpflanzen. Biosalat vom Verkehrskreisel? Naja!
In Winterthur gibts den Gemeinschaftsgarten Büel. Betrieben wird er vom Verein Gartenstadtgärten.ch. Allerdings ist die Information im Web noch ziemlich spärlich. Richtig professionell dokumentiert ist dagegen der Permakultur-Gemeinschaftsgarten Landhof in Basel. UrbanFarmers.com hat sich der Landwirtschaft auf Dächern verschrieben und scheint sowohl in Zürich wie in Basel Projekte zu haben. Die Idee, mit hydroponischen Tanks Fischzucht und Treibhäuser zu geschlossenen Kreisläufen zu verbinden, ist auf den ersten Blick bestechend.
In den Zusammenhang des Urban Gardening gehört natürlich auch die Organisation Pro Specie Rara, die sich für den Erhalt alter Nutzpflanzensorten und Tierrassen einsetzt. Sie kommt übrigens als einzige Schweizer Organisation oder Initiative im Buch von Rasper vor. Denn Widerstand gegen die von globalen Saatgutkonzernen und EU-Bürokraten verordnete Verarmung der genetischen Vielfalt ist ein wichtiger Teil des politischen Aspekts von Urban Gardening.
Gerade beim Saatgut werden im Sommer 2013 wichtige Weichen gestellt. In der EU wird zur Zeit das Saatgutrecht reformiert. Dieser Prozess geht leider aus Sicht der Ökologie in eine völlig falsche Richtung: Mit den geplanten restriktiven Gesetzen und Kontrollen wird es in Zukunft für kleine Produzenten fast unmöglich, traditionelle, nicht registrierte Sorten zu vermarkten, geschweige denn für den Biolandbau neue robuste Sorten zu ziehen. Ausführliche Informationen dazu findet man auf der Website Saatgutkampagne.org.
Ein guter Hintergrundartikel zu Geschichte und aktuellen Entwicklungen im Urban Gardening findet sich hier, allerdings ohne jeden Bezug zur Schweiz, dafür aber mit Berücksichtigung der Länder des Südens.
Auch einen wissenschaftlichen Artikel zu urbaner Landwirtschaft in Genf habe ich gefunden. Und gleich noch ein Beitrag aus der Westschweiz: www.potagersurbains.ch.
Und irgendwo gehört es im Kapitalismus wohl auch dazu, dass sogleich ein findiges Unternehmen den Megatrend riecht und hippe Produkte für den trendigen Urban Gardener per Web vermarktet (wie denn sonst): VEGandtheCity.ch. By the way, beim Blumengeschäft um die Ecke steht plötzlich auch “Urban Gardening” im Schaufenster.
Und gleich noch eine kommerzielle Adresse aus Zürich: Am Fusse des Prime Towers gibt es ein Restaurant mit eigenem Gemüsegarten: http://www.fraugerold.ch/garten/. Mitte September war ich dort: ein tolles Gelände mit Marktständen, Shops und Restaurationsbetrieb. Freitag verkauft seine Taschen übrigens in jenem wortwörtlich herausragenden Containerturm, den man auch von der Bahn aus sieht. Dem Gärtnerinnenauge entgeht allerdings nicht, dass viele Pflanzen kränkeln und ziemlich vernachlässigt sind, als Garten hat der Ort bei mir keine guten Erinnerungen hinterlassen. Die Bereitschaft, sich auf den Rhythmus der Pflanzen einzulassen, und die Verbindlichkeit, die Gärtnern erfordert, vertragen sich wohl zu wenig mit einem hippen Lebensstil. Jene Kisten, die am gepflegtesten aussahen, wurden von einer älteren Frau betreut, die zum restlichen jungdynamischen Publikum passte wie die Faust aufs Auge.
Auf der Suche nach der Keimtemperatur von Salbei bin ich über den deutschen Website “Stadtgemüse” gestolpert. Eine gute Adresse, wenn man ganz konkrete Tipps sucht.
Bern 2013: Burgernziel, Lorrainestrasse und Centralweg
Auf Google Maps habe ich die mir bekannten Berner Urban Gardening Projekte zusammengestellt. Inzwischen war ich in Bern sowohl am Centralweg wie – gerade heute – am Burgernziel. Beides sind mobile Gärten mit Hochbeeten und im Burgernziel auch mit Einkaufswägelchen. Während der Garten am Centralweg sich eher klassenkämpferisch gibt – alles gehört allen (dazu ein Video) – und seit 2011 ein Zeichen gegen Grundstücksspekulation setzen will, wurde der Gemeinschaftsgarten am Burgenziel zusammen mit der Stadtverwaltung und der Stadtgärtnerei im Frühling 2013 als Zwischennutzung konzipiert: Die einzelnen Parzellen werden vermietet, es steht eine Infrastruktur in Form von Paletten, Kisten, gelbgestrichenen Einkaufswägelchen und Säcken als Behältnissen zur Verfügung, dazu einen Tank für die Wasserversorgung und biologische Erde. Es gibt klare Regeln und Verantwortlichkeiten. Zwar gibt es auch hier einzelne Parzellen, die einen etwas verwahrlosten Eindruck machen (allerdings war ich auch mitten in den Sommerferien da), aber alles in allem machen die Beete im Burgernziel vom Gärtnerischen her auf mich einen besseren Eindruck: Mehr bewirtschaftete Fläche, grössere Vielfalt, besser organisiert, gepflegtere Beete. Nachbarschaftshilfe gibt es beim Giessen: Wer in den Ferien ist, steckt ein Fähnchen in seine Parzelle und hofft, dass die anderen aushelfen. Das scheint zu klappen, jedenfalls sah nichts in der Julihitze vertrocknet aus. Auf dem Gelände gibt es ausserdem ein Café, dass selbst auch ein paar Hochbeete betreut (oder auch nicht).
Was mir allerdings auffällt: Gedacht war der Garten wohl eher für Gemüse, doch jetzt im Juli haben die Blumen deutlich die Überhand: Ich schätze, dass zwei Drittel der Fläche mit Blumen bepflanzt sind. Hier sieht man die grösste Vielfalt: Schon aus Distanz sieht man die Sonnenblumen und fast ebenso hoch Schmuckkörbchen in verschiedenen Farben. Besonders beliebt sind Bechermalven und Kapuzinerkresse, ihr rosa, weiss und orange ist auf diversen Beeten zu sehen. An Wildblumen habe ich Kornraden, Kornblumen, roter Fingerhut und filigrane Jungfer im Grünen gesehen. Ringelblumen fehlen natürlich auch nicht, ebensowenig wie der Liebling der Guerilla Gardener, die Stockmalve. Eher Konventionelles wie Dahlien, Pelargonien, Tagetes, Lavendel und Margeriten gibt es ebenso. Besonders gefallen hat mir die Indianernessel, die Bienen und Hummeln hatten dagegen klare Präferenzen für den Natternkopf.
Auf solch beschränkten Flächen macht der Kräuteranbau mehr Sinn als Gemüse, gleich am Eingang steht ein Einkaufswägelchen mit Borretsch. Basilikum sieht man oft, ebenso Petersilie, Zitronenmelisse und Mehrjährige wie Salbei, Pfefferminze oder Rosmarin.
An Früchten habe ich nur Erdbeeren und Walderdbeeren gesehen, aber Gemüse gibt es einiges: Schon von weitem sticht das Klettergerüst mit den knallroten Feuerbohnen ins Auge. Es sind nicht die einzigen Pflänzchen mit Drang in die Höhe: Bohnen und Erbsen sehe ich mehrmals, und auch die Tomaten können ganz schön hoch werden. Ich frage mich, ob das nicht zu Konflikten führt, wenn in der Parzelle dahinter das Licht fehlt. Dieses Problem gibt es mit Karotten, Zucchetti, Kohlrabi, Fenchel und Kohl weniger. Und natürlich sieht man Salat und diverse Blattgemüse, besonders hübsch natürlich der rotstielige Mangold. Sogar Kartoffeln hat jemand angebaut. Eher vermisst habe ich exotische Gemüse oder alte Sorten. Vielleicht liegt es an mir, habe ich die Raritäten einfach nicht identifiziert, vielleicht liegt es aber auch daran, dass sich an einem solchen Projekt eher Neulinge beteiligen, die sich noch nicht unbedingt an Unkonventionelles heranwagen.
Seit 2013 gibt ein weiteres Pilot-Projekt der Stadtgärtnerei mit mobilen Gärten in Kisten und Säcken. Ein Standort ist die Lorrainestr. 15. Das Projekt wurde 2013 im Journal B ausführlich besprochen. Und es gibt auch Interview mit einer beteiligten Bewohnerin auf YouTube. Und hier noch eine Seite von “Stadtgrün Bern” (die frühere Stadtgärtnerei) mit allen temporären Gartenprojekten.
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt das Projekt “Radiesli” in der Agglomeration Bern. Dieser Verein ist eine Produzenten-Konsumenten-Gemeinschaft. Zwei professionelle Gärtnerinnen pflanzen mit Unterstützung von ca. 200 Vereinsmitgliedern in Worb biologisches Gemüse an. Der Vertrieb erfolgt über ein bezahltes Gemüse-Abo, für das man jede Woche (im Winter jede zweite Woche) mit einer Tasche Biogemüse beliefert wird. An mindestens 8 Halbtagen pro Jahr arbeitet man als Vereinsmitglied mit. Alles weitere zu diesem spannenden Projekt findet man auf dem Radiesli-Website.
Je mehr ich recherchiere, desto mehr kommt zum Vorschein: Ebenfalls in der Stadt Bern, allerdings an einem nicht näher beschriebenen Ort, versucht Jan Zuppinger auf 150 m2 seit 2011 in Richtung Selbstversorgung und Permakultur zu gehen. Er beschreibt dieses individuelle Experiment in seinem Blog.
Update 2015
Seit 2013 ist in Bern einiges gegangen: Der Garten am Centralweg existiert immer noch (trotz drohender Überbauung) und jener im Burgernziel natürlich auch. Im letzten Jahr ist ein mobiler Garten mit Einkaufswägelchen bei der Markus-Kirche entstanden. Am Ralligplatz wurde auf Initiative der Bewohner/innen mit Unterstützung der Stadtgärtnerei ein Schmetterlingsgarten in mobilen Pflanzsäcken gestaltet. Stadtgrün Bern, die ehemalige Stadtgärtnerei, ist in Bezug auf Urban Gardening richtig aufgeschlossen und hat diverse Projekte am Laufen.
Und dieses Jahr bekommt auch der Breitenrain sein Community Urban Gardening Projekt: Zusammen mit der Stadtgärtnerei und dem Sponsor Coop entsteht ein hängender Garten auf dem Spielplatz an der Ecke Beundenfeldstrasse – Kasernenstrasse. Noch nicht gerade die Kasernenwiese (Schnief, immer noch kein Bundesrat-Minger-Garten), aber doch ein Anfang. Die Plattform wird erst am 29. April aufgestellt, aber hier sieht man schon mal das Modell: